Hannelore Kraft: Brief zum Ausgang der Bundestagswahl

Lieber Torsten!

Das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag war für uns alle eine herbe Enttäuschung. Es gibt nichts zu beschönigen: Wir haben bei der Bundestagswahl ein Debakel erlebt. Diese Niederlage schmerzt. Sie stellt eine echte Zäsur dar. Die SPD in NRW stellt 15 Bundestagsabgeordnete weniger. Viele unserer verdienten Abgeordneten haben den Einzug ins Parlament trotz eines engagierten Wahlkampfes nicht mehr geschafft. Auch wenn wir in Nordrhein-Westfalen ein besseres Ergebnis erzielen konnten als im Bundesdurchschnitt: Die Verluste sind auch bei uns dramatisch.

In der Partei hat eine breite Diskussion über die Ursachen der Niederlage begonnen. Das ist gut so: Denn die SPD muss sich nun darüber klar werden, was zu diesem massiven Vertrauensverlust geführt hat. Wir haben an Vertrauen und Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Ursachen sind vielschichtig. Die SPD muss die Abstiegsängste der Menschen wieder ernster nehmen und über eine gute Bildungspolitik Aufstiegsperspektiven bieten.

Wir müssen uns kritisch hinterfragen, ob einige der in unserer Regierungszeit im Bund auf den Weg gebrachten Reformen nicht weiterentwickelt werden müssen und an welchen Stellen wir Vertrauen zurückgewinnen können. Ich denke hier ganz konkret an die Sicherung und soziale Ausgestaltung der Rente, an eine Anhebung des Schonvermögens oder an Maßnahmen gegen die ausufernde Leih- und Zeitarbeit. Einiges davon hatten wir im Regierungsprogramm angelegt. Aber wir haben es nicht glaubhaft transportieren können.

Die SPD hat es in ihrer fast 150-jährigen Geschichte immer vermocht, den Zusammenhalt und die Solidarität in der Gesellschaft zu organisieren. Das ist es, was die Menschen von uns erwarten – und zwar nicht nur diejenigen, die auf Solidarität angewiesen sind. Wir müssen mit unserer Politik den Verstand, aber vor allem auch wieder das Herz der Menschen erreichen.

Die SPD in Nordrhein-Westfalen ist nach der Wahlniederlage 2005 programmtisch sehr weit voran gekommen. Wir haben in Partei und Fraktion gute Konzepte erarbeitet. Die NRWSPD hat eine klare Richtung. Das hilft uns bei den nun in Berlin beginnenden Gesprächen über eine inhaltliche Neuausrichtung der Gesamtpartei.

Bei unserem Zukunftskonvent am 31. Oktober in Oberhausen wollen wir unter anderem mit Vertretern von Gewerkschaften und Sozialverbänden darüber diskutieren, wie wir den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gewährleisten können. Diese Frage steht und stand für Sozialdemokraten immer im Mittelpunkt ihrer Arbeit. Die Ergebnisse des Konvents wollen wir beim Bundesparteitag in Dresden und auch in unser Wahlprogramm für die Landtagswahl einfließen lassen.

Nach der Niederlage vom Sonntag wird es an der Parteispitze zu personellen Veränderungen kommen. Die Frage, wer die Partei künftig führen soll, ist Gegenstand von intensiven Beratungen. Der Parteivorstand wird seiner Aufgabe gerecht, dem Parteitag ein Tableau vorzuschlagen. Ich werde als Vorsitzende des größten Landesverbandes darauf achten, dass die Personalfragen mit Inhalten verbunden werden. Der Landesvorstand hat mich in dieser Woche einstimmig dazu aufgefordert, für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden zu kandidieren. Ich bin bereit, mich dieser Verantwortung zu stellen und mich auf unserem Bundesparteitag in Dresden für dieses Amt zu bewerben. Ich zähle dabei auf Deine Unterstützung.

Auch organisatorisch sind aus meiner Sicht Änderungen nötig. Wir müssen uns überlegen, wie wir von Berlin aus die Ansprache an die Partei und die Einbeziehung unserer Mitglieder in politische Entscheidungsprozesse verbessern können. Mir liegt viel an einem engen Abstimmungsprozess mit den Gremien der Partei und mir liegt viel an der Einbindung der Basis. In den nächsten Tagen werden Sitzungen des Präsidiums und des Landesvorstandes stattfinden. Und gemeinsam mit den Vorsitzenden der Unterbezirke wollen wir in der kommenden Woche diskutieren. Dieser Austausch mit Euch ist mir wichtig und hilft uns bei unserer politischen Positionierung.

Die SPD in Nordrhein-Westfalen steht jetzt vor ganz besonderen Herausforderungen. Wir müssen alle Kräfte bündeln, um bei der Landtagswahl im kommenden Mai ein überzeugendes Ergebnis einfahren und die schwarz-gelbe Landesregierung ablösen zu können. Ich bleibe dabei: Wir haben eine Chance, das Rennen ist offen. Erfolg werden wir dann haben, wenn wir mit überzeugenden Konzepten und geschlossen in den Wahlkampf ziehen. Wir sind dabei auf Eure Erfahrung und auf Euer Mitwirken angewiesen. Auf NRW kommt es jetzt an!

Ihr alle habt während des Kommunal- und Bundestagswahlkampfes viel Zeit und Kraft eingesetzt. Dafür danke ich Dir. Wir brauchen auch mit Blick auf die Landtagswahl Dein Engagement. Interessant ist: Viele Menschen wollen gerade jetzt die SPD unterstützen. Das belegen nicht zuletzt die hohen Eintrittszahlen der vergangenen Tage und Stunden. Daraus sollten wir Zuversicht und Mut schöpfen. Die SPD wird gebraucht! Lass uns gemeinsam kämpfen!

Deine

Hannelore Kraft