
Wissen Sie, wie Ihre Tochter gestorben ist?
Gisela Mayer: Ja. Nina war Referendarin an der Albertville-Realschule, wo sie Deutsch, Kunst und Religion unterrichtete. Nach der ersten großen Pause hatte sie eine Freistunde und stand mit zwei Kolleginnen im Kopierraum, als sie im Stockwerk über sich Lärm hörte. Es klang wohl nicht nach Schüssen, sondern eher nach Möbeln, die umgeworfen wurden. Die drei Frauen sind hochgelaufen, meine Tochter und eine Kollegin zuerst. Auf dem Flur kam ihnen der Täter entgegen. Wortlos erschoss er Nina und ihre Kollegin. Die dritte Lehrerin entkam, weil sie noch die Treppe hinunterrennen konnte. Der Mörder kannte meine Tochter nicht. Die beiden sind sich an diesem Morgen zum ersten Mal begegnet. Für das, was er getan hat, gibt es keine Rechtfertigung.
Acht Familien, die bei dem Amoklauf ein Kind verloren haben, haben sich zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen. Wie bekommt man so viele Hinterbliebene dazu, mit einer Stimme zu sprechen?
Gisela Mayer: Natürlich sind wir alle verschieden, und jeder geht mit seiner Trauer anders um. Aber es vereint uns, das wir das gleiche Schicksal haben. Wir wollen dem Tod unserer Kinder einen Sinn geben, indem wir uns beispielsweise für eine Änderung des Waffenrechts einsetzen. Wir wollen verhindern, dass andere Eltern das durchmachen müssen, was wir erlebt haben.
Warum gehören dem Bündnis nicht auch die Hinterbliebenen der anderen Opfer an?
Gisela Mayer: Das hat zum Teil ganz pragmatische Gründe. Die Witwe des erschossenen Autoverkäufers aus Wendlingen etwa unterstützt das, was wir tun. Aber sie hat nicht die Zeit, sich in unserem Bündnis zu engagieren, weil sie jetzt mit ihrer zweijährigen Tochter alleine dasteht.
Ihr Bündnis erhebt ja mehrere Forderungen. Die Wesentlichen betreffen eine Änderung des Waffengesetzes. Was genau wollen Sie erreichen?
Gisela Mayer: Zunächst einmal: Wir haben nichts gegen Sportschützen, und wir wollen ihnen auch nicht ihr Hobby nehmen. Aber wir denken schon, dass sie auf großkalibrige Waffen verzichten und sich auf Kleinkaliber beschränken sollten. Wir sprechen hier nicht über Tischtennis, sondern über ein Hobby, das wie kein anderes eine Gefahr für Unbeteiligte darstellt. Wir Eltern haben erfahren müssen, was eine großkalibrige Waffe anrichten kann. Bei dem Amoklauf in der Schule hat eine Kugel eine acht Zentimeter starke Holztür durchschlagen. Sie hat dann eine acht Meter dahinter stehende Lehrerin getötet, ist weitergeflogen und erst im Aluminiumfensterrahmen steckengeblieben. Vor solchen Waffen gibt es keinen Schutz. Wohinter sollten sich die Kinder denn in Deckung bringen? Wir meinen: Solche Waffen haben in Privathaushalten nichts zu suchen.
Die Sportschützen halten Ihnen entgegen, dass die meisten Straftaten mit illegalen Waffen begangen werden…
Gisela Mayer: Das stimmt sogar. Aber die Polizei hat uns auch gesagt, dass bei 97 Prozent der Amokläufe in Deutschland die Waffen aus dem Besitz eines Sportschützen stammten.
Welche Forderungen haben Sie noch?
Gisela Mayer: Munition und Waffen sollten nicht in einem Haus gelagert werden. Politiker erzählen uns zwar, das sei nicht machbar, aber wir wissen, dass das in der Schweiz funktioniert.
Sie haben ja nach dem Amoklauf einen Offenen Brief mit ihren Forderungen an die politische Führung Deutschlands geschrieben. Was war die Reaktion?
Gisela Mayer: Die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen haben geantwortet, man werde unsere Vorstellungen sehr ernst nehmen. Leider haben wir danach nie wieder etwas von ihnen gehört. Wir mussten den Zeitungen entnehmen, dass an einer völlig untauglichen Änderung des Waffengesetzes gearbeitet wurde, die die Regierung in dieser Woche beschlossen hat.
Berlin will die Altersgrenze für die Benutzung großkalibriger Waffen von 14 auf 18 hochsetzen und unangekündigte Hausbesuche erlauben, um die sachgerechte Aufbewahrung von Waffen zu überprüfen. Reicht das?
Gisela Mayer: Eben nicht! Das sind doch alles nur Placebos, um uns zu beruhigen. Genauso wie das vorübergehend angedachte Verbot von Paintball-Spielen, das wir gar nicht fordern. Alles das sind nette Gesten, mehr aber nicht. So wird man kein zweites Winnenden verhindern. Die Politiker übertreffen sich jetzt in Aktionismus, aber das ist nur Show.
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ist ja 1990 selbst von einem Attentäter mit einer großkalibrigen Pistole niedergeschossen worden. Warum, glauben Sie, greift er jetzt nicht durch und verbietet diese Waffen für Sportschützen?
Gisela Mayer: Schäuble ist tatsächlich der erste, der etwas tun müsste. Aber er hat seine Chance vertan. Er ist vor der Waffenlobby eingeknickt. Die ist zugegebenermaßen gut organisiert und war mit ihren Argumenten schneller als wir. Wir mussten ja erst unsere Kinder beerdigen.
Haben Sie heute noch Kontakt zu Politikern?
Gisela Mayer: Regionale Abgeordnete halten Verbindung zu uns. Ansonsten hatte sich das mit der Betroffenheit schnell erledigt. Herr Schäuble etwa hat als zuständiger Minister nicht ein einziges Mal mit uns gesprochen. Das zeigt, was in Deutschland ein Menschenleben wert ist, wenn es gilt, ein traditionsreiches Hobby ohne größere Einschnitte zu bewahren. In England etwa sieht das ganz anders aus. Da haben Politiker den Hinterbliebenen eines Amoklaufs den Rücken gestärkt, und inzwischen müssen die Sportschützen ohne großkalibrige Waffen auskommen.
Die Eltern der Opfer von Winnenden fordern von Medien, den Täter nicht in den Vordergrund zu stellen. Was meinen Sie damit?
Gisela Mayer: So ein Amokläufer weiß ja, dass er nach seinem Tod im Internet heroisiert wird. Und dass andere ihm nacheifern werden. Wir wollen deshalb auch den Opfern ein Gesicht geben. Wir wollen eine ausgewogene Berichterstattung, in der auch die Toten eine Rolle spielen. In der klar wird, welche Lücken der Mörder in Familien gerissen hat, und für welches Leid er verantwortlich ist. Wir wollen, dass die Medien so ausgewogen berichten, dass auch nicht der Hauch eines Glanzes am Täter hängenbleibt. So dass sich niemand ermutigt fühlt, es ihm gleichzutun.
Was war Ihre Tochter für ein Mensch?
Gisela Mayer: Nina ist schon als Kind durch das Schicksal ihrer Tante auf Behinderte aufmerksam geworden. Mit 13 Jahren hat sie sich im Verein Lebenshilfe engagiert und begonnen, geistig und körperlich Behinderte zu betreuen, etwa auf Freizeiten. Das hat sie bis zu ihrem Tod getan. Sie hat auch Kindern kostenlos Nachhilfe gegeben, um ihnen zu helfen. Nina hat Klavier gespielt und gemalt, sie war ein künstlerischer, ausgeglichener, fröhlicher Mensch, der das Leben vor sich hatte. Am Montag hatte sie noch ein erfolgversprechendes Vorstellungsgespräch an einer anderen Schule, am Dienstag hat sie mit uns den Geburtstag ihrer Schwester gefeiert, und am Mittwoch wurde sie ermordet. Wir haben Nina am 17. März beerdigt, ihrem 25. Geburtstag.
Glauben Sie noch an Gott?
Gisela Mayer: Ja. Ich konnte allerdings nichts damit anfangen, als im Trauergottesdienst gefordert wurde, eine 16. Kerze anzuzünden – für den Mörder. Die Kirche muss das vielleicht tun, aber uns Eltern hat das überfordert. Soweit sind wir noch nicht, und ich weiß nicht, ob ich es jemals sein werde. Angesichts des vielen Guten, das meine Tochter in ihrem kurzen Leben für andere getan hat, habe ich lernen müssen, dass es auf Erden keine Belohnung gibt.
Ist es ein Unterschied, ob man sein Kind durch einen Unfall oder eine Krankheit oder aber durch ein Verbrechen verliert?
Gisela Mayer: Ich glaube, das ist eine ganz andere Erfahrung. Angesichts dieser wirklich unvorstellbaren Gewalt sitzt der Schock besonders tief. Man versetzt sich als Mutter in sein Kind und fragt sich: Was hat deine Tochter zuletzt gesehen? Hatte sie Angst? Hat sie noch gelitten? Das beschäftigt mich.
Das Aktionsbündnis hatte ja auf seiner Internetseite auch ein Kondolenzbuch, das sie aber inzwischen geschlossen haben. Warum?
Gisela Mayer: Wir sind angefeindet und beleidigt worden, vor allem von Waffenliebhabern. Einer schrieb, wir hätten von Waffen keine Ahnung und sollten endlich Ruhe geben. Ein anderer meinte, er könne mit den Toten kein Mitleid haben. So etwas passiere eben. Mir persönlich hat jemand in einer E-Mail gedroht, er werde mich mundtot machen, wenn ich mich weiter gegen großkalibrige Waffen ausspräche.
Haben Sie auch Zustimmung aus der Sportschützenschaft bekommen?
Gisela Mayer: Sechs Wochen nach dem Amoklauf haben wir die bis heute einzige ausgewogene Zuschrift von einem Schützen bekommen. Er hat uns geschrieben, unsere Argumente seien es zumindest wert, diskutiert zu werden. Das hat uns sehr gefreut.
Haben sich die Eltern des Amokschützen inzwischen bei den Hinterbliebenen gemeldet?
Gisela Mayer: Leider nicht. Obwohl vor allem die Eltern, die die Familie des Mörders kennen, eine Geste erwartet hatten. Zumindest ein Wort der Anteilnahme. Aber alles, was wir gehört haben, ist die Verlautbarung, die der Anwalt der Familie verbreitet hat, und die trieft zum Teil vor Selbstmitleid .
Die Familie des Täters ist ja inzwischen aus Winnenden fortgezogen. Ist der Vater des Amokläufers noch im Schützenverein?
Gisela Mayer: Das wissen wir nicht. Ich denke aber, es hätte sich herumgesprochen, wenn er ausgetreten wäre.
Was wird die nächste Aktion der Opferfamilien sein?
Gisela Mayer: Die jetzt beschlossene Änderung des Waffenrechts ist ein Witz. Wie will uns Innenminister Schäuble entgegentreten, wenn beim nächsten Amoklauf wieder Kinder mit einer großkalibrigen Waffe erschossen worden sind? Wir werden in Kürze eine öffentliche Petition ins Internet stellen und hoffen, so viele Unterschriften zu bekommen, dass sich der Petitionsausschuss öffentlich mit dem Thema befassen muss und wir unsere Vorstellungen dort noch einmal erläutern können. Das sind wir unseren Kindern schuldig.
Wie verarbeiten die Hinterbliebenen das Geschehene?
Gisela Mayer: Einige nutzen das von der Polizei organisierte Angebot und lassen sich von Psychologen betreuen, andere machen das mit sich selbst aus. Unsere zweite Tochter, die eine ganz innige Bindung zu Nina hatte, versucht, die schlimmen Gedanken zu verdrängen und sich abzulenken. Mein Mann dagegen besucht häufig Ninas Grab.
www.aktionsbuendnis-amoklaufwinnenden.de