Martin Schulz strebt Sitz in EU-Kommission an / „Welches Europa wollen wir?“

Von links: Der Stemweder Bürgermeisterkandidat Wilhelm Riesmeier, der Vorsitzender der Sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament Martin Schulz und der Europakandidat und NRW Jusochef Christoph Dolle

Schwerfällig und undurchsichtig – das sind nur zwei der bekanntesten Assoziationen zur Europäischen Union. Zu Unrecht, sagt Martin Schulz, Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, im MT-Gespräch.

Am 7. Juni werden die Sitze in Brüssel und Straßburg neu vergeben, doch nur neun Prozent der Bundesbürger wissen um den Wahltermin. Und obwohl Martin Schulz noch zu den exponiertesten Köpfen des Parlaments zählt, ist auch sein Bekanntheitsgrad eher gering. Das allerdings könnte sich nach der Wahl ändern: Schulz strebt die Nachfolge seines Parteifreundes Günter Verheugen an, derzeit Industrie-Kommissar und Vize-Präsident der EU-Kommission.

Schulz´ Wahlkampf-Rezept ist naheliegend: "Zuspitzen", lautet sein Schlagwort. Um klare Worte ist der Rheinländer aus Würselen nicht verlegen. Die SPD setzt konsequenterweise auf einen auf Martin Schulz zugeschnittenen Wahlkampf. "Es geht um die Frage: Welches Europa wollen wir", sagt Schulz, "das der freien Kapitalinteressen oder das der Sozialstaatlichkeit." Der Spitzenkandidat ist zuversichtlich: Bei der Wahl 2004 kam die CDU auf 44 Prozent, die SPD auf 21. "Wir werden bei uns sicher einen Balken nach oben sehen", hofft der SPD-Kandidat auf deutlich mehr Stimmen. Für die CDU erwartet er einen Stimmenverlust – und ein Scheitern der CSU an der Fünf-Prozent-Hürde.

"Intransparenz ist nur empfunden"
Aus den Unzulänglichkeiten der EU macht der Europapolitiker kein Hehl, dennoch gibt er sich als überzeugter Europäer, der das Parlament gegen Vorurteile verteidigt. "Es gibt eine empfundene Intransparenz", sagt Schulz. Die Realität jedoch sei anders. "Bei uns tagt jeder Ausschuss öffentlich", im Bundestag seien öffentliche Sitzungen hingegen eine Ausnahme. Ähnlich verhalte es sich mit europäischen Gesetzesvorlagen, die vom ersten Referentenentwurf an frei zugänglich seien.

Dass die EU in der Öffentlichkeit mitunter negativ wahrgenommen werde, liege auch an den nationalen Regierungen. "Der Misserfolg ist europäisch", sagt Schulz. Erfolge hingegen schrieben sich die jeweiligen Regierungschefs auf die Fahnen – nach dem Motto: "Seht her, das habe ich in Brüssel durchgesetzt."

Dabei sieht Schulz nationale Alleingänge wie den französischen Protektionismus in der Autoindustrie als falsch an. "Was Sarkozy macht ist ein schwerer Fehler. Das ist fatal", hebt er an, um anschließend die Konsequenzen an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn Frankreich Autowerke in Spanien schließt, liefert Spanien keine Rohstoffe mehr an Frankreich: "In der Summe ist das ein schlechtes Geschäft."

Auch die neu entflammte Debatte um die Atomkraft bewegt den 53-Jährigen. Die Studie zur Zukunft der Atomkraft in Europa habe das Europaparlament ohne seine Stimme in Auftrag gegeben. Die Abhängigkeit von Uran werde vollständig ausgeblendet und die Frage der Endlagerung sei ebenfalls noch nicht geklärt.

Einstimmigkeitsprinzip lähmt die Gemeinschaft
Nachdenklichere Töne gibt es mit Blick auf den Reformvertrag, den Nachfolger der gescheiterten europäischen Verfassung. "Ohne Vertrag, keine Erweiterung", sagt Schulz. Das bedeute, dass die EU entweder in Stagnation verharre, oder dass sich Kräfte durchsetzen könnten, die den Integrationsprozess zurückfahren möchten. "Alles war richtig angelegt", blickt Schulz zurück. Erweiterung und Verfassung wurden parallel verfolgt, die Verfassung war unterschrieben. Dann kam das Nein aus Frankreich und den Niederlanden – "und das Kind war in den Brunnen gefallen." Ergebnis: Die EU hängt am Einstimmigkeitsprinzip fest, das schon mit 15 Mitgliedsstaaten eine Grenze erreicht hatte. Jetzt besteht die EU aus 27 Staaten.

Dass der Reformvertrag von Lissabon ausgerechnet an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts scheitern könnte, hält Martin Schulz für unwahrscheinlich. Mit dem Reformvertrag segele die EU an der Grenze zwischen Bundesstaat und Staatenbund, zitierte Schulz den vorsitzenden Richter Udo di Fabio. Schulz erwartet aus Karlsruhe Leitplanken für die künftige Ausgestaltung europäischer Verträge. Und auch die Möglichkeit in Deutschland eine Volksabstimmung über die Reform herbeizuführen, schreckt Schulz nicht: "Die würden wir gewinnen."